Johann Baptist Metz, Nur um Liebe geht es nicht … sondern um Gerechtigkeit: „Der christliche Glaube ist jedenfalls ein gerech­tigkeitssuchender Glaube. Gewiss, Christen sind dabei immer auch Mystiker, aber eben nicht Mys­tiker im Sinne einer ausschließlich spirituellen Selbsterfahrung, sondern im Sinne einer spirituel­len Solidaritätserfahrung. Sie sind vor allem »Mys­tiker mit offenen Augen«.“

Johann Baptist Metz

Eine gelungene Zusammenfassung des theologischen Anliegens von Johann Baptist Metz findet sich in seinem Artikel „Nur um Liebe geht es nicht“ in der heutigen Ausgabe der ZEIT. Da setzt der Altmeister der politischen Theologie noch einmal den Stachel der unerledigten Gerechtigkeitsfrage an gegen das selbstgefällige Abfinden mit einer scheinbar schicksalshaften Wirklichkeit. Seine apokalyptische Kritik am platonischen Ideengott trifft sich mit dem, was ich als NAMENSgedächtnis bezeichnen würde.

Nur um Liebe geht es nicht … sondern um Gerechtigkeit

Der Theologe Johann Baptist Metz, einflussreicher Gegenspieler des Papstes, fordert eine theologische Neubesinnung

Von Johann Baptist Metz

In einer Zeit, in der alle Welt vom sexuellen Missbrauch vor allem in der katholischen Kirche spricht, mag es abwegig erscheinen, wenn einer zum Thema Religion an den Glutkern der Bibel zu erinnern sucht. Ich will es gleichwohl riskieren.

Gott ist Liebe, betonte das erste große Rund­schreiben Benedikts XVI. Doch es gibt einen zweiten biblischen Gottesnamen, der auch in der neutestamentlichen Gottesbotschaft Widerhall und Bestätigung findet: Gott ist Gerechtigkeit. »Dies wird sein Name sein … Der Herr unsere Ge­rechtigkeit« (Jeremias 23,6). Dieser Gottesname mag für die Rede von einem platonischen Ideen­gott vernachlässigbar erscheinen, unverzichtbar ist er aber für den biblisch bezeugten Geschichtsgott. Er setzt die biblisch fundierte Gottesrede den ge­schichtlichen Erfahrungen der Menschen aus. Deshalb muss diese Gottesrede eine zeitempfind­liche Rede sein, die nicht nur erklärt und belehrt, sondern auch selber lernt. An der Wurzel dieses biblischen Gottesnamens schlummert immer auch eine unabgegoltene Gerechtigkeitsfrage, die Frage nach der Gerechtigkeit für die unschuldig und ungerecht leidenden Opfer unseres geschicht­lichen Lebens.

Die literarische Heimat für den Zusammen­hang von Gottesfrage. und Gerechtigkeitsfrage lässt sich in den biblischen Texten und ihrer Theo­dizee entdecken, also dort, wo die Passions­geschichte der Menschen von Anfang an in die Botschaft vom gerechtigkeitsschaffenden Heil der Menschheit eingerückt ist. Die Sprache dieser Traditionen sucht dem Schrei der Menschen ein Gedächtnis zu geben und der Zeit der Welt ihre Zeitlichkeit, das heißt ihre Frist. Der späte Ein­bruch des Zeitlichkeitsdenkens in die Religionen und Kulturen der Welt durch die biblische Apo­kalyptik – gestützt von der Sprache der Propheten und von der Leidenssprache der Psalmen – darf inzwischen als religions- und kulturhistorisch an­erkannt gelten.

Diese apokalyptischen Texte der Bibel sind nämlich in ihrem Kern keineswegs Dokumente leichtsinniger oder zelotisch angeschärfter Unter­gangsfantasien, sondern literarische Zeugnisse ei­ner Weltwahrnehmung, die die Antlitze der Opfer »aufdecken« will, Zeugnisse einer Weltsicht, die das »enthüllt«, was wirklich »der Fall ist« – gegen die in allen Weltanschauungen immer wieder auf­tauchende Neigung zur mythischen oder meta­physischen Verschleierung des himmelschreienden Unglücks in der Welt und gegen jene kulturelle Amnesie, die heute auch die vergangenen Leiden­den unsichtbar und ihre Schreie unhörbar macht.

Die biblische Apokalyptik »enthüllt« die Spur der Leidenden in der Geschichte der Menschheit. Sie kann dazu anregen, jenes einzige große Narra­tiv, jene einzige »Großerzählung« zu formulieren, die uns heute – nach der Religions- und Ideo­logiekritik der Aufklärung, nach Marxismus und nach Nietzsche und nach den postmodernen Fragmentierungen der Geschichte – überhaupt noch geblieben ist: die Lesbarkeit der Welt als Passionsgeschichte der Menschen. »Selig, die Trau­ernden«, sagt Jesus in der Bergpredigt. »Selig, die Vergesslichen«, verkündet Nietzsche als Prophet der Postmoderne. Was aber wäre, wenn sich die Menschen eines Tages nur noch mit der Waffe des Vergessens gegen das Unglück und die Leidenden in der Welt wehren könnten? Wenn sie ihr eigenes Glück nur auf das mitleidlose Vergessen der Opfer bauen könnten, also auf eine kulturelle Amnesie, in der eine als fristlos imaginierte Zeit alle Wunden heilen soll? Woraus könnte dann der Aufstand gegen unschuldig und ungerecht Leidende noch seine Kraft ziehen? Was würde dann überhaupt noch zu einer größeren Gerechtigkeit, zum Ringen um eine »gemeinsame Augenhöhe« der Men­schen in der Einen Welt inspirieren? Und was wäre, wenn in unserer säkularen Welt die Vision von einer letzten Gerechtigkeit endgültig verlöschen würde?

In den wuchernden Angeboten von »Spiritualitäten« müssten sich gerade Christen an den messianischen Grundzug ihres Christentums und seiner Spiritualität erinnern lassen. Jesu erster Blick ist ein messianischer Blick. Er gilt zunächst nicht der Sünde der anderen, sondern ihrem Leid. Diese messianische Leidempfindlichkeit hat nichts zu tun mit Wehleidigkeit, mit einem unfrohen Leidenskult. Sie hat aber alles zu tun mit einer biblischen Mystik der Gerechtigkeit: Gottesleidenschaft als Mitleidenschaft, als praktische Mystik der Compassion. Ein Christentum, das sich an seiner biblischen Wurzel fasst, bekommt es immer wieder damit zu tun.

Haben sich die Christen von der urbiblischen Gerechtigkeitsfrage vielleicht zu schnell und zu früh verabschiedet? Hat sich das Christentum – im Lauf der Zeit – zu ausschließlich als eine sündenemp­findliche und zu wenig als eine leidempfindliche Religion interpretiert? Warum zum Beispiel tut sich die Kirche mit unschuldigen Opfern immer schwe­rer als mit schuldigen Tätern? Solche Fragen sind nicht rein spekulativ auszuräumen, auch nicht mit rein moralischen Appellen. Aber vielleicht mit einem kirchlichen Rechtsverständnis, das unter dem Primat einer rettenden Gerechtigkeit für die un­schuldig leidenden Opfer steht.

Der christliche Glaube ist jedenfalls ein gerech­tigkeitssuchender Glaube. Gewiss, Christen sind dabei immer auch Mystiker, aber eben nicht Mys­tiker im Sinne einer ausschließlich spirituellen Selbsterfahrung, sondern im Sinne einer spirituel­len Solidaritätserfahrung. Sie sind vor allem »Mys­tiker mit offenen Augen«. Diese Mystik ist keine antlitzlose Naturmystik. Sie führt vielmehr in die Begegnung mit den leidenden anderen, mit dem Antlitz der Unglücklichen und der Opfer. Sie ge­horcht der Autorität der Leidenden. Die in diesem Gehorsam aufbrechende Erfahrung wird für diese Gerechtigkeitsmystik zum irdischen Vorschein der Nähe Gottes in seinem Christus: »Herr, wann hät­ten wir dich je leidend gesehen? … Und er ant­wortete ihnen: Wahrlich, ich sage euch, was ihr einem dieser Geringsten getan habt, habt ihr mir getan« (Matthäus 25).

Schließlich lässt sich dieser biblische Impuls und sein Gerechtigkeitspathos auch auf unsere heutige Welt beziehen. Was verhindert denn, dass diese glo­balisierte Welt am Ende nicht doch in unbeherrsch­baren Religions- und Kulturkämpfen implodiert, zum Beispiel hier Christentum – dort Islam, hier der Wes­ten – dort die orientalische Welt? Was ist es denn, das diese Welt in Frieden zusammenhalten kann? Der Satz von der elementaren Gleichheit aller Menschen, diese stärkste Vermutung über die Menschheit, hat ein biblisches Fundament. Seine moralische Wendung, in der er vom Christentum angenommen und mit der Botschaft der unzertrennbaren Einheit von Gottes-und Nächstenliebe, von Gottesleidenschaft und Mit­leidenschaft verkündet wird, lautet etwa: Es gibt kein Leid in der Welt, das uns gar nicht angeht.

So verweist dieser Satz von der elementaren Gleichheit aller Menschen auf die Anerkennung einer Autorität, die allen Menschen zugänglich und zu­mutbar ist, auf die Autorität der Leidenden, der un­gerecht und unschuldig Leidenden. Er zielt auf eine Autorität, die vor jeder Abstimmung und Verständi­gung alle Menschen, ja alle, ob religiös oder säkular, verpflichtet und die deshalb von keiner humanen, auf die Gleichheit aller Menschen pochenden Kultur und von keiner Religion, auch von der Kirche nicht, hintergangen und relativiert werden kann. Deshalb auch wäre die Anerkennung dieser Autorität jenes Kriterium, das den Religions- und Kulturdiskurs in globalisierten Verhältnissen orientieren könnte. Sie wäre schließlich die Basis eines Friedensethos für eine strikt pluralistische Weltöffentlichkeit.

Er ist einer der großen friedlichen Revolutionäre innerhalb der katholischen Theologie und neben Hans Küng der prominenteste deutsche Linkskatholik. Johann Baptist Metz, Jahrgang 1928, war Konsultor des Päpstlichen Sekretariats für die Ungläubigen und lehrte Fundamentaltheologie in Münster. Bekannt wurde er als Begründer der Neuen Politischen Theologie. Christentum ist für ihn vor allem memoria passionis, das Eingedenken von Leid, Unrecht und Gewalt.

DIE ZEIT, Nr. 16, 15. April 2010, Seite 60.

Hier der Text als pdf.

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